Gegenwartsliteratur,  Rezension,  Summer Reading Challenge 2018

Andreas Baum – Wir waren die neue Zeit

Forefathers: Read a book about your country’s independence.

Da Deutschland niemals wirklich seine Unabhängigkeit erlangen musste, haben wir uns entschieden, für diese Aufgabe ein Buch über die Zeit unmittelbar nach der Wende zu lesen, die in ihrer Bedeutung für Deutschland einer erlangten Unabhängigkeit ähnlich ist und unser Land zu dem gemacht hat, was es heute ist.

„Wir waren die neue Zeit“ beginnt sehr kurz nach dem Fall der Mauer. Berlin scheint sich in einer Art Ausnahmezustand zu befinden und ist beinahe ein rechtsfreier Raum, denn die Ost-Polizisten schauen demonstrativ weg, wenn Linke, Autonome oder Nazis mehr oder weniger illegale Aktionen durchführen oder Ordnungswidrigkeiten begehen. In dieser Zeit besetzen Linke aus unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft – Studenten wie Handwerker, Ossis wie Wessis – zahlreiche leerstehende Häuser in Ostberlin. „Die Häuser denen, die drin wohnen“ ist das Motto.

Der Ich-Erzähler Sebastian Brandt besetzt mit einer zunächst noch sehr überschaubaren Gruppe Studenten gleich eine ganze Reihe zusammenhängender Häuser inklusive zweier Innenhöfe. Es dauert nicht lange, bis rund 70 Menschen dort wohnen und verschiedene Fraktionen bzw. Wohneinheiten bilden, vom Frauenhaus über das Künstlerhaus bis zu den Punks. Im Innenhof finden regelmäßig Feste statt, zu denen auch die bürgerliche Nachbarschaft eingeladen wird und sogar eine hauseigene Kneipe gibt es. Doch das Leben ist nicht immer so harmonisch wie es auf den ersten Blick scheint. Auf den regelmäßig stattfindenden Plenen werden immer wieder Themen wie Sexismus, vegane Ernährung sowie Streitigkeiten zwischen einzelnen Bewohnern heiß diskutiert. Jeder versucht, getarnt durch politische Parolen, seine persönlichen Interessen durchzusetzen. Weitgehende Einigkeit herrscht nur im Kampf gegen Polizisten und „Faschos“, welche in den Augen der meisten Hausbesetzer wohl gleichzusetzen sind.

Der Roman ist eine Mischung aus kritischer Auseinandersetzung und nostalgischen Erinnerungen des Autors, der diese Zeit in Berlin offenbar selbst als Student miterlebt hat. Er schreckt auch vor einem bekannten Schandfleck der damaligen linken Szene, dem Pädophilie-Skandal, nicht zurück, auch wenn er diesen nur kurz am Beispiel der real existierenden Indianerkommune thematisiert.

Die Geschichte beginnt mit Überlegungen des Ich-Erzählers, wer unter den Hausbesetzern wohl ein Spitzel war und wird dann in einer langen Rückblende erzählt, bis das Thema Spitzel erst ganz am Ende und quasi in der Gegenwart der Geschichte wieder aufgegriffen wird. Die auf den ersten Seiten sehr große Menge vorgestellter Charaktere überfordert zunächst. Doch recht schnell findet man sich in dem Haus zurecht und kennt die Bewohner, sodass einem unterhaltsamen Lesegenuss nichts mehr im Wege steht.

Menschen, die Ende der 60er/Anfang der 70er geboren wurden, können mit diesem Roman womöglich in Erinnerungen schwelgen oder sich über verpasste Gelegenheiten ärgern. Für jüngere Generationen bietet er einen interessanten Einblick in die spannende Anfangsphase der heutigen BRD.

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https://www.youtube.com/watch?v=n6fY_QVc7bI