5/5,  Favoriten,  Kurzgeschichten,  Rezension,  Summer Reading Challenge 2019

Ferdinand von Schirach – Verbrechen

Past love: Reread a book you loved when you were younger.

„In der Sache gab es nichts zu verteidigen. Es war ein rechtsphilosophisches Problem: Was ist der Sinn von Strafe? Weshalb strafen wir? Im Plädoyer versuchte ich den Grund zu finden. Es gibt eine Fülle von Theorien. Strafe soll uns abschrecken, Strafe soll uns schützen, Strafe soll den Täter davon abhalten, nochmals eine Tat zu begehen, Strafe soll Unrecht aufwiegen. Unser Gesetz vereinigt diese Theorien, aber keine passte hier richtig (…) Das Unrecht der Tat war offensichtlich, aber es war schwer zu wiegen.“

Nach vierzig gemeinsamen Ehejahren tötet ein Arzt seine Ehefrau mit einer Axt. Eine Prostituierte soll von einem führenden Industriellen ermordet worden sein. Ein unauffälliger Mittvierziger wird von zwei Schlägern provoziert, die am Ende dieser Begegnung tot sind. Und eine junge Frau tötet ihren geliebten Bruder.

In elf bewegenden Kurzgeschichten schildert Ferdinand von Schirach Fälle, die auf den ersten Blick eindeutig scheinen, hinter denen aber viel mehr steckt. Es geht dabei um Verbrechen verschiedenster Art mit außergewöhnlichen Motiven.

Schirach ist einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger und erzählt in seinem Debütwerk, das 2009 im Piper Verlag erschienen ist, von besonderen Fällen seines anwaltlichen Alltags. Insgesamt 61 Wochen befand sich “Verbrechen” auf der Bestsellerliste des Spiegels. Die Rechte an dem Werk wurden in über 30 Länder verkauft und 2013 erschien eine vom ZDF produzierte Serie, die auf diesem fesselnden Kurzgeschichtenband basiert.

Schirachs nüchterner und sachlicher Schreibstil ohne jegliche Wertung der Geschehnisse ist gnadenlos ehrlich und fast schon brutal in seiner Bedeutung. Dabei würzt er diesen stets mit einem gewissen Maß an Humor und meistens mit einer Pointe. Dieser Kontrast zur Emotionalität der Fälle erleichtert das Lesen – gerade im Hinblick auf die Realität der Geschehnisse.

Ich habe dieses Buch bereits vor einigen Jahren während meines Jurastudiums gelesen, wobei mich Schirachs Denkweise sofort angesprochen und bewegt hat. Immer wieder erklärt er den Lesern Teile unseres Rechtssystems und lässt dabei stets einen Hauch Kritik mitschwingen, indem er von dessen Schwachstellen berichtet. Dabei werden unzählige Fragen aufgeworfen: Was ist eigentlich ein Verbrechen? Weshalb und wofür strafen wir? Und wo genau ist die Grenze zwischen Schuld und Unschuld zu ziehen?

Verbrechen” ist der Beginn einer Reihe von Werken, in denen Schirach es schafft, dem Leser einen Spiegel vorzuhalten und die Abgründe der Menschheit aufzuzeigen. Dabei weist er nicht nur im Vor- und Nachwort daraufhin, dass man sich Sachverhalte der Wahrheit zuliebe genauer anschauen sollte, sondern lässt diese Aufforderung immer wieder durchblicken und hält stets ein Spiel aus Sprache, Bedeutung und Auffassung aufrecht. Er beleuchtet alle Aspekte einer Geschichte, wodurch man als Leser irgendwann seine eigene Definition von Gut und Böse in Frage stellt, ehe man schlussendlich zu der verblüffenden und zugleich erschreckenden Erkenntnis gelangt, dass das Leben immer noch die besten Geschichten schreibt. 

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