5/5,  Fantasy,  Favoriten,  Klassiker,  Rezension,  Summer Reading Challenge 2018

Ovid – Heroides

Poet at Heart: Read a book of poetry.

Die Geschichten der klassischen Antike sind voll von Charakteren, egal ob Gottheit oder nicht, die mit ihren Gefühlen kämpfen, Entscheidungen treffen und dann mit den Konsequenzen umgehen müssen. Ebenso ergeht es den Heroiden, den weiblichen Heldinnen und auch einigen Helden, denen Ovid in seinen Briefgedichten eine Stimme verleiht. Harold Isbell hat diese Gedichte hervorragend ins Englische übersetzt und die Gedichtform beibehalten, die Königsdisziplin der Übersetzungstätigkeit. In 21 Gedichten erlangt der Leser tiefe Einblicke in die Gedanken und Gefühlswelt bekannter Charaktere der klassischen Antike.

Da wäre zum Beispiel die Flussnymphe Oenone, die in der Nähe Trojas lebte und sich mit Paris vermählte, als dieser noch nicht wusste, dass er ein Prinz von Troja ist. In dem Brief verarbeitet Oenone ihre Liebe, die sie in dem Moment als zurückgewiesen erkennt, als Paris mit Helena an seiner Seite von einer Reise nach Griechenland zurückkehrt. Sie kann es nicht fassen, dass er sie nicht mehr liebt und wünscht sich sehnlichst die Zeit zurück, in der er mit ihr zusammen am Berg Ida lebte. Doch sie ist auch ungeheuer wütend und verleiht dem in ihrem Brief an ihn auch Ausdruck:

Happy Andromache, Hector is faithful

    Why could you not be like your brother?

But you are lighter than dry leaves drifting on

    a fitful breeze, you are even less

than the smallest tip of a spear of grain dried

    in the insistent warmth of the sun.

Ovid schafft es in den Briefen, die Facetten der Liebe klar zu umreißen. So geht es um Bedingungslosigkeit und Abhängigkeit, Wut und Angst, Verzweiflung und Schmerz. Diese Gefühle stellt Ovid in facettenreichen Metaphern und mit außergewöhnlicher Wortgewandtheit dar, die auch in Isbells Übersetzung noch sehr gut wirken.

In der Ausgabe von Penguin Classics ist zu jedem Brief ein kurzes Vorwort vorhanden, der den Brief für den Leser kontextualisiert. Darüber hinaus befindet sich im Anhang eine Übersicht der Hauptcharaktere, sodass sich der Leser über das Vorwort hinaus informieren kann, wer die entsprechende Person ist und wie ihre Geschichte lautet. Schließlich werden in Fußnoten vor allem weitere Charaktere näher erläutert. Falls man beispielsweise nicht weiß, dass Andromache Hectors Frau war und dass dieses Pärchen häufig als Paradebeispiel für eine glückliche Beziehung herangezogen wird, da wird man von Harold Isbell nicht im Regen stehen gelassen. So findet auch ein Laie der antiken Literatur tiefen Zugang zu Ovids Werk und kann das Wechselbad der Gefühle in vollen Zügen genießen.

Wer also schon immer mal wissen wollte, wie sich Penelope wohl fühlte, als Odysseus viel zu lange brauchte, um von Troja wieder den Weg zu ihr zu finden, oder was Dido, die Gründerin von Karthago, darüber dachte, dass Aeneas, der später Rom gründen sollte, sie verließ, der wird hier fündig und darüber hinaus prächtig unterhalten werden.

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