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Saša Stanišić – Herkunft

Heute ist der 21. Januar 2020. Gestern Abend habe ich “Herkunft” zu Ende gelesen. Die letzten 60 Seiten von Saša Stanišićs Biografie… Roman… was auch immer? sind eine Choose-Your-Own-Adventure-Geschichte. Ich bin ein bisschen berührt und sehr unschlüssig, wie ich zu diesem Buch eine gescheite Rezension schreiben soll. Ich schaue auf Amazon nach. “Ein sprachliches Fest” sagen die einen. “Kitschig und fragwürdig” sagen die anderen. Naja, denke ich.

Heute ist der 22. Januar 2020. Ich schaue auf Youtube Interviews mit Saša Stanišić. Er nimmt den Deutschen Buchpreis entgegen und verwendet seine Zeit lieber damit, sich über den Nobelpreisgewinner Peter Handke zu echauffieren, als über sein Werk zu sprechen. Seine Empörung wundert mich nicht. Helfen tut sie mir bei dem Schreiben einer Rezension jedoch auch nicht. Er sagt einen Satz, der bei mir hängen bleibt und der sich auch auf sein Werk beziehen lässt: “Ich feiere eine Literatur, die nicht zynisch ist, nicht verlogen, die uns Leser nicht für dumm verkaufen will, indem sie das Poetische in Lüge verkleidet.”

Sicherlich gibt es Leute, die Stanišićs Erzählen auch als Lüge bezeichnen würden, denn gänzlich in der Welt des Realen sind die essayartigen Geschichten nicht verortet. Er springt in seiner Familiengeschichte herum, erzählt mal vom Urgroßvater und seinem Leben als Flößer an der Drina, mal von seiner eigenen Jugend an einer ARAL-Tankstelle in Emmertsgrund nach der Flucht aus Jugoslawien. Doch Stanišić ist in erster Linie ein Erzähler, und das Überspitzen, das Ausschmücken, das Fabulieren ist das Handwerk eines jeden Schreibers. Zusammen mit trügerischen Erinnerungen und Situationen, von denen er sich wünscht, dass sie so passiert wären, entsteht etwas Einzigartiges, beinahe Traumartiges. Fast logisch erscheint es dann, dass das Ende in eine von Drachen bevölkerte Höhle führt und Großeltern wieder zum Leben erweckt werden. Was ist wahr, was ist erfunden? Und ist das überhaupt wichtig?

Heute ist der 26. Januar 2020. Wie soll ich eine Biografie bewerten? Sorry, Saša, aber so mit 17 hättest du echt mehr erleben können, 3 von 5? “Herkunft” ist vor allem eine schmerzhaft persönliche Geschichte. Stanišić lässt uns ungeschönt an seinem Leben teilnehmen: am Scheitern der Definition eines Heimatgefühls, an der Lust zum kreativen Ausdruck, an der Liebe zu seiner Großmutter. Das alles ist für eine Biografie wunderbar unprätentiös, was sich auch im Stil niederschlägt. Schöne Sätze treffen derbe Töne: eine erfrischende Mischung.

Man mag “Herkunft” vorwerfen, dass es nicht von vorne bis hinten durchdacht ist, dass es am Ende keine große Aussage trifft, auf die das ganze Buch hingearbeitet hat und dadurch fragmentarisch wirkt. Aber braucht Literatur immer einen triftigen Grund? Reicht es nicht, den Vorhang für eine neue Perspektive zu öffnen? Reicht es nicht, neben dem Hirn auch mal das Herz beim Lesen zu gebrauchen? Reicht es nicht, teilzuhaben an den Gedanken und Gefühlen eines anderen, Verlust zu spüren, als wäre es der eigene? 

Niemals aufhören, Geschichten zu erzählen, Saša.

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