5/5,  Fantasy,  Favoriten,  Rezension,  Weihnachten,  Wichteln 2019,  Young Adult

Jo Walton – In einer anderen Welt

Im Sommer, wenn es nicht regnete, sind Mor und ich oft losgezogen und haben gespielt. Wir spielten Ritter, die dem Feind ein letztes verzweifeltes Gefecht lieferten, um Camelot zu verteidigen. […] Wir führten lange Unterhaltungen mit den Feen, bei denen wir wussten, dass wir beide Rollen sprachen. Es wäre problemlos möglich, die Feen aus diesen Erinnerungen herauszuschneiden – nur Mor natürlich nicht, sodass ich trotzdem nicht darüber reden konnte.

Mor ist fünfzehn. Sie hat bei einem Autounfall ihre Zwillingsschwester (ebenfalls Mor) verloren und kann selbst nur noch mit Gehstock laufen. Trotzdem läuft sie weg – vor ihrer Mutter, einer bösen Zauberin, die ihre Schwester auf dem Gewissen hat. Sie wird in die Obhut ihres Vaters, den sie nicht kennt, und seinen Schwestern gegeben, doch diese verfrachten sie in ein Internat. Aberauch dort scheint Mor vor ihrer Mutter nicht sicher. Kann die Magie ihr helfen?

Vordergründig ist “In einer anderen Welt” von Jo Walton eine Geschichte von einem jungen Mädchen, das zwar in unserer Welt lebt, darin aber trotzdem Magie entdecken und wirken kann. In ihrer Welt gibt es Feen, Geister und böse Zauberinnen, die sie verfluchen können. Dieses Mädchen kämpft tapfer gegen das Böse und kann es schließlich überwinden. Doch das Buch ist noch so viel mehr als das. Es ist ein Coming-of-Age Roman, in dem die Magie und die magische Welt als kontinuierliche Allegorie zu den realen Ereignissen verstanden werden kann. So wird die Mutter, die die lebenserhaltenden Maßnahmen von Mors Schwester beendet und zudem vielleicht auch eine unerkannte psychische Störung hat, die Mor und ihrer Schwester Angst einflößte, zur bösen Hexe, die Feen und die Magie, möglicherweise ein Fantasiegebilde zweier junger Mädchen, werden Realität, da sie das einzige sind, was Mor von ihrer Schwester geblieben ist. Mor selbst hat in ihren jungen Jahren schon so viel verarbeiten müssen, dass sie selbst die Realität nur in kleinen Stücken zulassen kann, der Rest ist magisch. Erst im Laufe des Buches kann sie neue Beziehungen zu gleichgesinnten Menschen aufbauen und sich erst am Ende ganz darauf einlassen, um die Magie und das, was sie bedeutet, hinter sich zurückzulassen und so mit dem Tod ihrer Schwester abzuschließen.

Die Geschichte um Mor ist leise, sie passiert ohne viel Aufhebens, doch sie zieht einen mit jeder Seite mehr in den Bann, bis man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen will (warum muss ich an dieser Station eigentlich schon aussteigen?? Ob ich wohl im Gehen weiterlesen sollte?). Denn schließlich gibt es noch eine dritte Dimension und die ist eigentlich die beste: Mor ist DIE Leseratte schlechthin. Der einzige Gedanke, der sie am Leben hält, sind ihre Science-Fiction Bücher, die sie verschlingt wie keine zweite:

“Ich habe alle drei Bücher gelesen, die ich in der Tasche hatte, eines davon zweimal (Unternehmen Schwerkraft von Hal Clement). Ich hätte mehr mitnehmen sollen, aber ich war nur auf die lange Wartezeit in der Sprechstunde vorbereitet. [Mor, als sie spontan im Krankenhaus bleiben muss]”

Für mich war sie deswegen eine Figur, mit der ich mich wunderbar identifizieren konnte. Ich sage nur Bücherstapel aus der Bibliothek ausleihen, die höher sind als man selbst (zugegebenermaßen vom Tisch aus). Und dann der Moment, wenn man Gleichgesinnte trifft, mit denen man sich über die geliebten Schriftwerke austauschen kann. Phantastisch! Die Masse an Literatur, die in diesem Buch erwähnt wird, ist nicht zu verachten: es werden insgesamt fast 200 Bücher erwähnt, manche mehrmals, und das auf nur knapp 300 Seiten. Am liebsten hätte ich die alle sofort ausgeliehen und gelesen.

Geschrieben ist das Buch übrigens als Tagebuch. Eigentlich schreibt Mor rückwärts, damit niemand im Internat ihr Tagebuch lesen kann. Der Verlag war aber so nett, es vorwärts abzudrucken. Die Form gibt dem Inhalt noch eine kleine zusätzliche Nuance, denn so kann der Leser miterleben, wann Mor beginnt, die Realität zurück in ihr Leben zu lassen.

Lange Rede, kurzer Sinn: für Bibliophile ist dieses Buch ein absolutes Muss und hat nicht umsonst den Hugo Award, den Nebula Award und den British Fantasy Award gewonnen. 

P.S.: Außerdem finde ich es süß, dass das Buch den Bibliotheken und Bibliothekaren dieser Welt gewidmet ist, “die dort Tag für Tag sitzen und den Menschen Bücher ausleihen.”

Bewertung 5 Küsse

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